Leipziger Großtagung gegen Rechts:
Fiasko auf vielen Ebenen
Mit 1100 Teilnehmern sollte ein Leipziger Großkongress erfolgreiche
Konzepte gegen den Rechtsextremismus zusammentragen. Heraus kam ein Katalog
vielfältigen Versagens.
Von Holger Kulick
Leipzig - Kurz nach 21 Uhr stürmt Polizei ins Kino Capitol in der
Leipziger Innenstadt und berichtet von einer Bombendrohung. Im Saal
läuft "Lost Sons", ein Dokumentarfilm über die rechte Szene, in dem der
ehemalige Neonaziführer Ingo Hasselbach seine Erfahrungen schildert.
Hasselbach sitzt im Kino-Foyer und zuckt zusammen. Schon zur
Deutschlandpremiere des Films war sein Auftritt wegen Bombendrohungen
geplatzt. Soll nun der Saal geräumt, die Vorführung abgebrochen werden?
Der Einsatzleiter entscheidet sich dagegen, nur ein Sprengstoffsuchhund
kommt unauffällig zum Einsatz. Der Trotz besiegt diesmal die Furcht vor
der Gewalt von rechts - zum Glück. Denn die Diskussionsveranstaltung mit
Hasselbach am gestrigen Abend ist der lehrreichste Programmpunkt einer
eher traurigen Großveranstaltung: 750.000 Mark legte die Bundeszentrale
für politische Bildung hin, um mit mehr als 1100 Teilnehmern unter der
Überschrift "Verirrung, Provokation oder Protest?" drei Tage lang über
Erfahrungen und Rezepte im Kampf gegen den Rechtsextremismus zu
diskutieren.
Neonazis erobern ganzer Stadtteile
Durchweg mussten die Teilnehmer auf allen Ebenen ein Fiasko eingestehen:
Mangels ausreichender und kontinuierlicher Förderung kreativer
Jugendarbeit, mangels Fortbildung von Lehrern, mangels Kenntnissen der
verantwortlichen Politiker von der wahren Lage vor Ort gibt es bislang
nirgendwo die große politische und gesellschaftliche Offensive gegen die
Ausbreitung der Neonazi-Umtriebe im Land.
Bedrückend fällt da etwa die Analyse der Leipziger Stadtverwaltung aus:
Sie berichtet ratlos von der "soziokulturellen Eroberung" ganzer
Stadtteile durch die rechte Szene, die Andersdenkende und -aussehende
aus ihren Wohnungen vertreibt, weil sie "begründete Angst um ihre
körperliche Unversehrtheit" haben müssen.
Der Aufstand der Zuständigen
Die Forderung nach einem "Aufstand der Zuständigen", die der
CDU-Politiker, Talkshowheld und Funktionär der Jüdischen Gemeinde
Frankfurt, Michel Friedman, bei der Eröffnung erhebt, wurde zum
treffendsten Satz, der auf der Veranstaltung fällt.
Während Innenminister Otto Schily nur zum wiederholten Male das
rechtsstaatliche Durchgreifen des Staats zum Generalrezept verklärt,
bringt der Grafiker Klaus Staeck auf den Punkt, was er tags zuvor im
kleinen Milmersdorf in der Uckermark erlebt hat. Ein Jugendhaus hatte
ihn eingeladen, gerade wurden dort acht Stellen in der Jugendarbeit
gestrichen, und in der gesamten Region durften nur 28 von vormals über
hundert Sozialarbeitern bleiben. Sie sind restlos überfordert mit der
Aufgabe, den wachsenden sozialen Sprengstoff zu entschärfen. Ausgenutzt
wird dies in Ostdeutschland zunehmend von der NPD.
Im Durchschnitt sind die Mitglieder der NPD in Sachsen 26 Jahre alt, und
über Musik, Internetchats, Clan-Spiele und gezielte Freizeitangebote
wirbt die Partei gezielt um Jugendliche, die sich immer weniger mit dem
Staat Bundesrepublik Deutschland identifizieren, dafür um so mehr mit
ihren Phantasiegebilden über die neue alte Großmacht in der Mitte
Europas.
60 Prozent der Schüler in Rostock betrachten diese Demokratie nicht mehr
als geeignete Staatsform, mahnt ein Vertreter des dortigen
Landesjugendrings. Und das Gespenst einer "völkischen Demokratie" mache
im Kopf vieler die Runde.
"Weniger reden - mehr tun?"
Was tun? Als völlig überfordert stellen sich in einer Arbeitsgruppe die
anwesenden Berufsschullehrer heraus. "Sind wir Sozialtherapeuten?",
fragt einer der Pädagogen abwehrend. Die Wirtschaft verlange, dass
Englisch und Fachkenntnisse unterrichtet werden. Um Problemanwalt der
unterprivilegierten Jugendlichen zu sein, dafür bleibe einfach keine
Zeit, rechtfertigen die Lehrer ihre Untätigkeit. "Aber Ihr seid die
einzigen Ansprechpartner für viele, die mit ihren Eltern nicht reden
können", springt ein Jugendlicher auf und erhält keine Antwort.
Auch das schwarze Brett der Veranstalter sammelt entsprechende
Denkanstöße. "Weniger reden - mehr tun?" hat jemand formuliert, daneben
steht: "Dann fangt doch endlich an!" "Womit?", fragt beim Lesen ein
kopfschüttelnder Lehrer.
"Am liebsten wollen alle ein Rezeptbuch in die Hand gedrückt bekommen",
stöhnt Bernd Wagner, der in Berlin mehrere Jugendsozialarbeitsprojekte
betreut. Was aber im Kern fehle, sei die Bereitschaft aller und vor
allem der Eltern, überhaupt mehr auf Kinder und Jugendliche einzugehen.
Auch Ingo Hasselbach mahnt im Kino Capitol sein Publikum: "Denen in
solchen rechten Gruppen wird gesagt, da draußen ist keiner, der euch
will." Aber das Gegenteil müsse die Gesellschaft signalisieren - und
beweisen. "Das sind Gruppen, die zum Teil Sektencharakter haben." Dies
aufzubrechen sei keinesfalls leicht.
Pressehonorare zum Aufbau der Rechten
Wie konnten solche festen Strukturen eigentlich wachsen, woher hatten die
nach der Wende das Geld, wird Hasselbach noch gefragt. Dazu kann der
Ex-Nazi aus eigener Erfahrung von Unterstützung aus der Mitte der
Gesellschaft berichten: Bei Anwälten, Ärzten und in anderen
gutbürgerlichen Kreisen gebe es genügend Unterstützer und Spender, die
nur äußerlich weiße Kittel und feine Anzüge tragen.
Einen wesentlichen Grundstock, so weiß Hasselbach, hätten auch viele
Journalisten gelegt. Üppige Honorare für die authentischen Storys über
die exotischen Rechten, so weiß Hasselbach, hätten lange Jahre die Szene
maßgeblich stabilisiert.
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Zur Diskussion:
[haGalil
onLine - Wozu eigentlich?]
Die Frankfurter Rundschau meint zum
Leipziger Ereignis: "Am
Ende der Debatte bleibt allein Ratlosigkeit: Kongress über
Rechtsextremismus plätschert vor sich hin".
haGalil onLine
22-03-2001
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